Kommunale Familienpolitik zwischen Autonomie, Ressourcen und übergeordneter Verantwortung
Datum
20. Mai 2025
Schlagwörter
Familienpolitik Familienzentrum Gemeinde Hilfesystem Politik
Eine gelungene kommunale Familienpolitik ist das Fundament familienfreundlicher Lebenswelten. Gemeinden operieren jedoch in einem komplexen Spannungsfeld, das durch lokale Autonomiebestrebungen, begrenzte Ressourcen, heterogene Bedarfsstrukturen und den Ruf nach übergeordneter Steuerung und Standardisierung geprägt ist.
Entscheidungen und Angebote sollen möglichst nah an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entwickelt und umgesetzt werden. Nur dies ermöglicht Lösungen, die den spezifischen lokalen Kontext – von der Bevölkerungsstruktur über soziokulturelle Gegebenheiten bis hin zu wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – berücksichtigen. Familienzentren, Jugendtreffs oder spezifische Beratungsangebote sind oft Ausdruck dieser lokalen Eigenständigkeit. Eine gelebte kommunale Zuständigkeit ermöglicht die Aushandlung, Verantwortungsübernahme sowie die demokratische Legitimation familienpolitischer Massnahmen vor Ort.
Das Dilemma freiwilliger Leistungen und fehlender Rahmenbedingungen
Eine wesentliche Herausforderung für die kommunale Familienpolitik liegt darin, dass viele der Angebote als «freiwillige Leistungen» gelten und gesetzlich nicht vorgeschrieben sind. Im Gegensatz zu den übergeordneten gesetzlich verankerten Aufgaben wie Schule oder Sozialhilfe gibt es kein oder nur sehr vage formuliertes Recht, welches die Erbringung der Leistung einfordert (vgl. u.a. BSV, 2014). In Zeiten knapper öffentlicher Finanzen geraten diese Angabote schnell unter Legitimations- und Finanzierungsdruck, da bei ihnen finanzpolitischer Handlungsspielraum besteht.
Das Fehlen übergeordneter politischer Rahmenbedingungen für spezifische familienpolitische Angebote, wie beispielsweise einheitliche Qualitätsstandards oder Finanzierungsmodelle für Familienzentren, kann diesen Effekt verstärken. Es gibt auch eine symbolische Abwertung: Was nicht übergeordnet geregelt und verpflichtend ist, erscheint manchen Entscheidungsträger*innen als nachrangig.
Kommunale Politik beklagt häufig den Mangel an Gestaltungsspielraum, gleichzzeitig werden die bestehenden Möglichkeiten jedoch nicht genutzt und kommunale Aufgaben primär als Kostenfaktor betrachtet. Damit kannibalisiert sich die kommunale Politik jedoch selbst und zieht sich aus der Verantwortung. Gerade wenn kein übergeordnetes Recht die Leistungserbringung regelt, ist es an den Gemeinden, diesen Politikbereich mit Sorgfalt zu gestalten, da die Verantwortung dafür abschliessend bei ihnen liegt. Gerade die grossen Städte in der Schweiz zeigen, dass der Gestaltungsspielraum gross ist und man ihn nutzen kann.
Das Kommunale geht verloren
Studien weisen darauf hin, dass das Interesse an kommunaler Politik abnimmt (Haus & Ladner, 2020), was letzendlich dazu führt, dass weniger gestaltet wird und kommunlaes Handeln mehr zum reinen Verwalten und Umsetzen verkommt. Kommunale Politik wird somit zunehmend zum ausführenden Organ übergeordneter Vorgaben. Eine wirksame und gelungene kommunale Familienpolitik, die passgenaue Angebote ermöglicht, würde jedoch «gestalten wollen und können» bedeuten.
Es ist ein eigentlicher doppelter Bedeutungsverlust der kommunalen Politiken und er wiegt schwer. Immer weniger Personen sind bereit, sich kommunalpolitisch zu engagieren. Gleichzeitig nehmen kommunalpolitische Spielräume ab und werden – gerade auch in Folge der fehlenden kommunalen Verantwortungsübernahme – übergeordnet geregelt.
Die Notwendigkeit und der gesellschaftliche Mehrwert kommunal getragener Angebote wie Familienzentren, Jugendarbeit oder in gewissen Kantonen auch die Schulsozialarbeit muss kontinuierlich neu verhandelt und verteidigt werden – es ist eine energieaufwendige Daueraufgabe für lokale Akteure.
Die Notwendigkeit der kommunalen Gestaltung von Familienpolitik steht im Kontrast zu den Einschränkungen des Gestaltungsraums insgesamt. Es fehlen sowohl die Personen, die aushandeln wollen, als auch die gestaltbaren Räume. Wichtig wäre, dass familienpolitische Massnahmen nicht nur als Kostenfaktor gesehen werden, sondern dass man sich mit ihrer Wirkungsweise und ihrem Nutzen auseinandersetzt.
Der Ruf nach übergeordneter Steuerung: Chancen und Risiken
Angesichts dieser Herausforderungen wird oft der Ruf nach stärkerer übergeordneter Steuerung laut, sei es durch kantonale Vorgaben oder nationale Strategien, bis hin zur Diskussion über ein Bundesamt für Familien (vgl. u.a. Feri, 2021) – in Anlehnung daran, dass es in fast allen Ländern Europas eigentliche Familienministerien auf nationaler Ebene gibt.
Der Familienpolitik soll damit mehr Gewicht verliehen sowie eine gewisse Verbindlichkeit hergestellt und Mindeststandards gesichert werden. Solche Bestrebungen sind jedoch ein zweischneidiges Schwert: Einerseits können sie die Position der Familienpolitik stärken und eine flächendeckend Grundversorgung gewährleisten. Andererseits besteht die Gefahr, die kommunale Autonomie und Flexibilität einzuschränken, lokale Innovationspotenziale zu hemmen und einen „One-size-fits-all“-Ansatz zu fördern, der den heterogenen Realitäten vor Ort nicht gerecht wird. Wenn auch in der Familienpolitik das übergeordnete Recht zur Richtschnur wird, dürfte es noch schwieriger werden, darüberhinausgehende Leistungen auf kommunaler Ebene zu verhandeln.
Die Anforderungen an die kommunale Familienpolitik variieren erheblich je nach Grösse und Struktur einer Gemeinde. Urbane Zentren mit hoher Bevölkerungsdichte, grosser soziokultureller Vielfalt und starker Anonymität haben andere Bedarfe als kleinere, ländlich geprägte Gemeinden. Während Grossstädte möglicherweise umfangreiche und spezialisierte Angebote (z.B. für diverse Familienformen oder spezifische Problemlagen) benötigen und finanzieren können, müssen kleinere Gemeinden stärker auf generalistische Ansätze setzen. Das freiwillige Engagement und der Milizgedanke hat da auch bei der Erbringung von grundlegenden Leistungen eine viel grössere Bedeutung. Diese zivilgesellschaftlichen und teilweise auch familiären Strukturen können sehr tragfähig sein, solange man als hilfesuchende Person nicht von den normativen Erwartungen abweicht. Sie können aber auch dazu führen, dass Probleme nicht bearbeitet werden und Hilfe ausbleibt.
Fazit
Die Stärke kommunaler Familienpolitik liegt in der lokalen Verankerung und der Anpassungsfähigkeit. Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zu finden zwischen der Wahrung dieser Autonomie und der Schaffung unterstützender übergeordneter Rahmenbedingungen, die dem Stellenwert von Familien in der Gesellschaft gerecht werden.
Die Förderung von lokalen Aushandlungsprozessen und die Anerkennung der Vielfalt an Bedürfnissen sind Schlüssel zu einer gelingenden Familienpolitik vor Ort. Die Heterogenität der Familienformen und Lebensmodelle nimmt stetig zu, was eine flexible Familienpolitik erfordert. Eine zeitgemässe Familienpolitik muss den vielfältigen Lebensrealitäten Rechnung tragen und bedarfsgerechte Angebote für alle entwickeln.
Die lokale Aushandlung und Angebotsentwicklung erlaubt es den Gemeinden, Lösungen zu entwickeln, die den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Familien vor Ort besser gerecht werden als standardisierte Ansätze. Es ist eine Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen der notwendigen Autonomie der Gemeinden in der Ausgestaltung ihrer Familienpolitik und der Schaffung unterstützender Rahmenbedingungen durch übergeordnete staatliche Ebenen zu finden. Diese Rahmenbedingungen sollen sicherstellen, dass grundlegende Angebote gewährleistet sind und eine gewisse Kohärenz in der Familienpolitik über verschiedene Gemeinden hinweg besteht.
Es ist jedoch unabdingbar, dass Gemeinden ihre familienpolitische Verantwortung wahrnehmen und nicht erst zu handeln beginnen, wenn ein solches durch übergeordnetes Recht gefordert wird. Gemeindeautonomie ist nur mit Verantwortungsübernahme zu haben.
Quellen
BSV. (2014). Aktueller Stand der Kinder- und Jugendpolitik in der Schweiz. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV. https://www.bsv.admin.ch/dam/bsv/de/dokumente/kinder/studien/kinder-undjugendpolitik2014.pdf
Feri, Y. (2021). Motion zur Schaffung eines Bundesamtes für Familie, Generationen und Gesellschaft. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20213850
Haus, A., & Ladner, A. (2020). Wer hat die Macht in den Gemeinden? Eine Analyse über den Einfluss politischer Akteure auf die lokale Politik in der Schweiz. Yearbook of Swiss Administrative Sciences, 11(1), 66.