Das Individuum in der Geiselhaft
Datum
8. April 2019
Schlagwörter
Gerechtigkeit Ordnungspolitik Theorie Wirtschaft
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Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, was heute noch genügt, ist schon morgen zu wenig. Der Konsum muss angekurbelt werden. Das immer mehr, besser und vor allem schneller darf nicht hinterfragt werden um nicht der Unwissenheit oder Naivität bezichtigt zu werden. Die paradoxe Diagnose von Hartmut Rosa (u.a. 2012), dass wir wachsen müssen um nicht zurück zu fallen, lässt sich im Alltag immer wieder von neuem bestätigen. Die Notwendigkeit von Wachstum ist Teil eines breiten Verständnis der Welt geworden und in vielfältiger Weise tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert. Offensichtlich wird dieser Zwang zur Steigerung, wenn wir uns die Berichterstattungen zur Konjunktur anschauen, denn Null-Wachstum ist ein Rückschritt und gefährdet die Stabilität unseres wirtschaftlichen Systems.
„Wir Heutigen laufen nicht mehr auf ein verheissungsvolles Ziel vor uns zu, sondern vor dem katastrophischen Abgrund hinter uns davon. Das ist ein kultureller Unterschied ums Ganze.“
– Hartmut Rosa 2012 in „Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne“
Als Menschen sind wir angehalten immer weiter zu gehen und uns mit allerlei Hilfsmittel produktiver zu machen. Technische Hilfsmittel unterstützen unsere Kommunikation. Tabletten, Pillen und (auch natürliche) Säfte sollen unsere Leistungsfähigkeit steigern oder bewahren uns vor dem Zusammenbruch. Und auch Training, Coaching und nicht zuletzt spirituelle Angebote geben uns die nötige Kraft um in dieser Steigerungslogik mithalten zu können.
Dieser Wachstum geht Hand-in-Hand mit der Auflösung kollektiver und sozialer Strukturen (u.a Kronauer 2010) . Es geht nicht mehr um soziale Gerechtigkeit, sondern um eine Investition in Menschen und die Überzeugung, dass der return on invest unser Handeln legitimiert. Gesellschaftliche und soziale Verantwortung wird nicht als Selbstzweck gesehen, sondern folgt einem ordnungspolitischen Verständnis und dient der Aufrechterhaltung der für das Wachstum so wichtigen Stabilität.
In diesem engen Korsett von gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen wird die Freiheit und Autonomie des Einzelnen zur Farce. Können wir die gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich ändern und an diesen arbeiten? Ist es nicht so, dass wir nur schon beim geringsten Abweichen von der Steigerungslogik unsere wirtschaftliche Stabilität derart stark gefährden, dass sämtliche politischen Mehrheiten verloren gehen und Veränderungen damit unmöglich geworden sind? Ist es nicht sogar so, dass wir diese Befürchtung schon derart stark in unserem Denken aufgenommen haben, dass wir gar nicht mehr an einen Wandel unserer Gesellschaft glauben?
„Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürften der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen. Solange diese ihnen verschleiert sind, leben sie unterm Schleier der Maja. Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das was ist, nicht alles.“
– Theodor W. Adorno 1966 in „Negative Dialektik“
Es ist bezeichnend, dass sich auch in der Problemlösung alles auf die letzte Sphäre vermeintlicher Freiheit und Autonomie konzentriert, auf das individuelle Leben. Man soll fair einkaufen, um soziale Gerechtigkeit in die Welt zu bringen und sich möglichst vegan ernähren, um einen Beitrag an die Verhinderung des Klimawandels zu leisten. Abgesehen davon, dass viele Menschen, nur schon aus ökonomischen Gründen keine Möglichkeit haben, sich auf dieser Weise politisch zu betätigen, sind wir nicht so frei wie wir denken.
Als Menschen sind wir Teil eines sozialen Gefüges mit all seinen Konventionen, wir benötigen die Anerkennung und soziale Einbettung um existieren zu können. Nicht ohne Grund war die Verbannung aus der Stadt, also der Ausschluss aus der Gesellschaft, eine der höchsten Strafe die im Mittelalter verhängt werden konnten. Wir passen, ohne uns dessen bewusst zu sein, sowohl unsere Meinung wie auch unsere Verhalten an, um die soziale Einbettung sicherzustellen. Die damit verbundenen feinen Mechanismen der Macht führen dazu, dass unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen nur eingeschränkt individuelle Freiheiten möglich sind.
In Debatten und Diskurs wird nicht selten vom oder von der Einzelnen ein Konsum- und Leistungsverhalten gefordert, welches auch dessen oder deren politischen Zielen entspricht. Dies dient jedoch hauptsächlich der Verunglimpfung berechtigter politischer Forderungen. Gerade da wir unser alltägliches Handeln nicht so frei gestalten können wie wir wollen, müssen wir politische Forderung aufstellen können, die unserem alltäglichen Handeln entgegenstehen. Nur so lassen sich unter dem gigantischen ökonomischen Druck die letzten Resten tatsächlicher Demokratie bewahren. Die Gesellschaft ist gar nicht so eingerichtet, dass ein widerspruchsfreies Leben und gleichzeitige soziale Integration möglich sind.
Das soziale und am gemeinsinn orientierte individuelle Verhalten ist nicht Voraussetzung für politische Forderungen sondern die Konsequenz einer gute Politik. Solange Wachstum und Steigerungslogik die politischen Treiber sind, ist Konsum und Verwertung die Konsequenz. Demokratie bedeutet, wenn sie mehr als eine Technik sein soll, die gemeinsame Gestaltung des Lebens. Weder beginnt sie beim Verhalten des Einzelnen noch endet sie dort, der Gegenstand der Demokratie kann nur die Gemeinschaft sein.
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Literatur
Adorno, Theodor W. 1966. Negative Dialektik. Suhrkamp.
Kronauer, Martin. 2010. Exklusion. die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt: Campus-Verlag.
Rosa, Hartmut. 2012. Resonanz statt Entfremdung: Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne. Kollegs Postwachstumsgesellschaften. Link: Thesenpapier+Krise+_+Rosa.pdf.